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28.1.20 Versöhnung

Am 24.1. 20 erschien ein bemerkenswerter Kommentar von Reinhard Veser in der FAZ. Der Autor thematisierte unser Verhältnis zu Israel auf dem Hintergrund der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee sowie zur Rede des Bundespräsidenten in Yad Vashem. Er schließt mit dem verblüffenden Hinweis “…denn auch im Verhältnis zu den Russen wäre es angebracht, von einem Wunder der Versöhnung zu sprechen“. Wie wahr, dachte ich.

Steinmeier-Reden in Vad Vashem, in Auschwitz und dann im Bundestag. Die gleiche Thematik der sich steigernden Warn- und Mahnreden. Doch durch den erwähnten Kommentar hellhörig geworden, vermißte ich in der öffentlichen Wahrnehmung einen Hinweis auf die Russen und dem Wunder der Versöhnung zwischen ihnen und uns. Man muß sich nur dem düsteren Ausgangspunkt stellen:

Da ist ja nicht nur der durch Deutschlnd entfesselte Krieg, sondern auch die offen & schamlos betriebene systematische Vernichtung von russsichen Soldaten in Gefangenenlagern auf dem ganzen Reichsgebiet. Doch kein Aufschrei. Nirgends.

Auch das Wunder der Versöhnung zwischen Deutschen und Russen muß als Prozess verstanden und beschrieben werden. Das Scharnier zwischen jenem Wunder der Versöhnung mit Israel, der Versöhnung mit den Russen und uns heißt für alle Zeiten Auschwitz. Wer hören & lesen kann weiß das.

In der Nachzeichnung des angesprochenen Prozesses füllt sich die Erinnerung an einzelne Etappen mit Leben. Wieder und wieder, auch wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sein werden.

Am 8. Mai 1985 wurde der 40. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands begangen. Die aus diesem Anlaß gehaltene Rede des damaligen Bundespräsidenten v. Weizsäcker wirkt bis heute nach.

Ich selbst war damals als evangelischer Militärpfarrer in Düsseldorf tätig. Zur Bergischen Kaserne in Hubbelrath gehörte seiner Zeit ein Standortübungsplatz. Der war grundsätzlich frei zugänglich. Es gab wohl ein ein paar Hinweisschilder auf den militärischen Sicherheitsbereich. Doch ein Zaun oder vergleichbare Abgrenzungen zu den nahegelegen Siedlungen fehlte.

An der Grenze zum sog. Gallberg, doch noch eindeutig auf dem Gelände des Standortübungsplatzes, befand sich ein russischer Soldatenfriedof. Sonderlich gepflegt schien er mir damals nicht zu sein.

Nun gehört zu den normalen Tätigkeiten eines Militärpfarrers, dass er zu Standortgottesdiensten einlädt. Üblicherweise fanden die in einer Kapelle direkt vor der Wache statt. Für den 8. Mai wollte ich davon abweichen und zu einem Standortgottesdienst auf dem Russischen Soldatenfriedhof einladen. Man erinnere sich: 1985 herrschte im Osten der Warschauer Pakt und im Westen die Nato. Die Nahtstelle zwischen den Militärgiganten bildete die innerdeutsche Grenze. Beide Blöcke übten in unterschiedlichen Manövern denkbare militärische Auseinandesetzungen unter realen Bedingungen.

In Düsseldorf residierte damals der russisch-orthodoxe Bischof Longin. Ich hatte ihn irgendwann als freundlichen Mitchristen kennengelernt. Man sagte es nicht laut, aber konnte es hinter der hohlen Hand sowohl gefragt und als auch ungefragt von Kennern der Szene hören, dass sich Longin an der langen Leine zum KGB und der sowjetischen Botschaft in Bonn bewegt. Eine Realität, so dachte ich, der man sich halt stellen und nicht entziehen kann. Bei der Einschätzung spielten durchaus meine DDR-Erfahrungen eine Rolle.

Ein Standortgottesdienst auf dem russischen Soldatenfriedhof ohne Bischof Longin schien mir kaum möglich zu sein. Zu mindest wollte ich ihn bitten daran mitzuwirken. Ich meldete mich bei ihm an – und war über seine unmittelbare, spontane und herzliche Zusage verblüfft. Über die Einzelheiten des Gottesdienstes einigte ich mich mit ihm genauso schnell wie mit irgendeinem anderen Kollegen.

Dann machte ich den Plan zu dem Standortgottesdienst auf dem russischen Soldatenfriedhof öffentlich. Das Echo unter Offizieren und Soldaten der Bergischen Kaserne war unterschiedlich, doch überwiegend positiv. Zum Standort-Gottesdienst selber erschienen viele Uniformierte, unerwartet auch Generaldekan Reinhard Gramm vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr aus Bonn. Das empfand ich als freundliche Rückenstärkung.

Es erschien zu meiner Überraschung auch mein jüdischer Freund Harry, der von dem Gottesdienst durch die Presse erfahren hatte. Er, der noch lebt, gehört zu den Auschwitz-Überlebenden. Die Befreiung des KZ durch die Rote Armee sei für ihn ein besonderes Datum, sagte er mir auf dem Soldatenfreidhof. Dafür wolle er hier & heute einstehen und seinen Dank abstatten. Von dem Gottesdienst selber berichtete die örtliche Presse und das Durchhalteblättchen (Soldatenjargon) BW-Aktuell. (Im Bild oben links sehen Sie einen Beitrag aus den “Weg” vom 19.5.1985).

Irgendwann später erhielt ich eine Einladung zu einem Empfang durch Bischof Login in seine Residenz in Düsseldorf-Eller. Zum ersten Mal in meinem Leben aß ich Kaviar, reichlich, wie ich mich lebhaft erinnere – und staunte über die illustren Gäste. Ein Insider flüsterte mir zu, wer alles in der sowjetischen Botschaft in Bonn tätig sei – und der, flüsterte mein Gewährsmann mit dem Finger auf jemand zeigend, sei beim KGB.

Damals unterhielt die DDR eine offizielle Vertretung in Düsseldorf. Ob sich deren Mitarbeiter zu einem Empfang – sagen wir – der Rheinischen Kirchenleitung einladen ließen? Allein der Gedanke schien mir ein schlechter Witz zu sein. Aber in der Sowjetunion, so sagte ich mir damals, gehen die Uhren offensichtlich auch im Verhältnis zwischen Staatsmacht, Militär und Orthoxer Kirche anders, als wir uns das im Westen vorzustellen vermochten. Irgendwie erinnerte mich das an die besten Zeiten der preussischen Geschichte.

Mutig geworden, hätte ich Bischof Longin am liebesten einmal gefragt, wie viele Kinder der Botschaftsangehörigen er denn schon getauft habe. Doch das wagte ich denn doch nicht.

Für den 8. Mai 2020 steht nun wieder ein Gedenktag an: 75 Jahre Ende des 2. Weltkrieges. Doch auch der Tag kann zum Meilenstein für das Wunder der Versöhnung mit Russland werden. Als Zeugen dafür sollte der Bundestagspräsident den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche und für das ganze Rus in Moskau, Kyrill I. nach Berlin einladen und ihn bitten, vor dem Bundestag zu reden. Alles darunter wäre nur peinlich.

P.S. Die Geschichte vom Standortgottesdienst auf dem russischen Soldatenfriedhof setzte sich im gleichen Jahr beim Kirchentag in Düsseldorf fort. Doch das ist eine andere Geschichte.

Auszug aus dem Brief, mit dem die Kommandeure und Dienststellenleiter auf den Standortgottesdienst am 8. Mai 1985 auf dem russischen Soldatenfriedhof in Düsseldorf hingewiesen wurden.