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9.12.19 Stille Einfalt

Sternthaler mag ich ganz besonders. Sowohl in der Galerie meiner Kerzen als auch unter den Märchen der Gebrüder Grimm. In der ersten Fassung trug es noch die Überschrift “Das arme Mädchen”. Danach stand es unter dem uns geläufigen Titel. Ich liebe es auch deshalb, weil es mich an meine eigene Kindheit erinnert. Doch davon später.

“Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, daß es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr hatte, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus ins Feld.

Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach: »Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungerig.« Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: »Gott segne dir’s«, und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und sprach: »Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann.« Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegangen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an und fror: da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich gelangte es in einen Wald, und es war schon dunkel geworden, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: »Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben«, und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel, und waren lauter blanke Taler; und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es ein neues an, und das war vom allerfeinsten Linnen. Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag”.

Es gehört zu den kürzesten Märchen in der Sammlung der Gebrüder Grimm. Das arme Mädchen wird als „gut und fromm“ beschrieben. Überlegen Sie: Besteht für Sie zwischen gut und fromm ein Unterschied und falls ja, welcher wäre es?

Das Mädchen gibt im weiteren Verlauf des Märchens auf entsprechende Bitten ein Stück nach dem anderen von seinen spärlichen Habseligkeiten ab. Ganz anders als es z.B. die Legende von St. Martin berichtet. Der Heilige teilt lediglich und behält die eine Hälfte für sich. Das stieß schon Ilse Aichinger auf. Die Lyrikerin formulierte einen

Nachruf

Gib mir den Mantel, Martin,
aber geh erst vom Sattel
und laß dein Schwert, wo es ist,
gib mir den ganzen

Zurück zum Sternthaler. An keiner Stelle wird über einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des armen Mädchens und einer künftigen Belohnung spekuliert. Ihre Motivation interessiert nicht und bleibt im Dunkel. Das arme Waisenkind bleibt sich treu, bis es nackt ist. Authentischer – falls es diese Steigerung geben sollte – geht’s nimmer.

Weder das Mädchen noch Leser und Hörer bekommen Zeit, um über die Zusammenhänge nachzudenken. Wie in kurzen Filmschnitten folgt eine herausfordernde Situation auf die nächste. Nur mit einem temporalen „da“ sind sie verbunden. Habe ich richtig gezählt, kommt es 10-mal vor. Die penetrante Wortwiederholung hält den Leser in der Spur.

Als am Ende des Märchens die Sterne vom Himmel fallen & sich die Schürze des Kindes mit Goldstücken füllt, bleibt der Himmel merkwürdig stumm. Kein interpretierender Engel schiebt sich ins Bild & kein moralischer Zeigefinger reckt sich empor. Unser Blick bleibt auf das arme Mädchen focussiert.

Als kleiner Junge betete ich immer vor dem Einschlafen den 6. Vers von Matthias Claudius „Der Mond ist aufgegangen“. Im 2. Teil heißt es dort:

„..lass uns einfältig werden/ und vor dir hier auf Erden/wie Kinder fromm und fröhlich sein.“

Eine schönere Illustration als das Märchen vom Sternthaler kann ich mir dafür nicht vorstellen.