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2.11.18 Rührend

Jetzt bekommst du ein Stück Kuchen, ging es mir durch den Kopf. Geklingelt hatte eine schlanke, junge Frau mit offenen, dunklen Haaren. Sie schaute mich freundlich an, hielt eine Tortenplatte mit einer Gazeabdeckung darüber in der Hand, die sie mir etwas unsicher lächelnd entgegenstreckte. Als ich mir das Teil näher anschaute entdeckte ich zunächst nichts.

Ich bat die junge Frau herein und schaute dann näher hin. Da sah ich eine kleine, offensichtlich vor kurzem geschlüpfte Biene. Die habe ihre dreijährige Tochter gestern entdeckt. Man habe dem Tier auch etwas zu fressen gegeben. Ob ich die kleine Biene nicht in einem meiner Völker unterbringen könnte?

Das Tier bewegte sich kaum. Da begann ich einen Kurzvortrag über den Lebensverlauf von Bienen, verwies auch auf den Unterschied zwischen Sommer- und Winterbienen und machte die junge Frau darauf aufmerksam, dass die Tiere zum Sterben den Stock verlassen usw.usw. Schnell merkte ich, dass meine Ausführungen deplatziert waren. Es ging eben nicht um die Bienen im Allgemeinen und besonderen, sondern um die eine, kleine, sich kaum noch bewegende vor mir.

Bisher machte die einen klammen Eindruck. Doch als ich die Gazehaube nach einer Weile anhob flog sie in Richtung Fenster zum Garten. Das warme Zimmer hatte offensichtlich ihre Lebensgeister geweckt. Jetzt krabbelte die Biene das Fenster hoch und fiel dann wieder nach unten, um sich erneut auf dem Glas nach oben zu bewegen. Ich erklärte meiner Besucherin, dass mir dieses Bild wohl vertraut sei.

Ich holte ein Handtuch, fing darin das kleine Tier, öffnete das Fenster und sie flog von dannen. Vorher hatte ich noch zu einem weiteren Kurzvortrag ausgeholt. Fremde Bienen würden sich in irgendeinem der Stöcke im Garten einbetteln – das Wort wiederholte ich mehrfach – und so vielleicht eine neue Heimat finden. Ob mir die junge Frau überhaupt zuhört, fragte ich mich? Ich glaube eher nicht. Sie schaute dem so munter wegfliegenden Tier nach und bekam Tränen in die Augen.

Das dreijährige Mädchen hatte uns alle überwältigt. Mich im Besonderen. Wie viele kleine Bienen sehe ich täglich auf den Gehwegplatten in meinem Garten herumkrabbeln – ich weiß es nicht. Soll ich versuchen eine von ihnen zu retten? Und was wird aus den vielen anderen, bei denen das aus nahe liegenden Gründen nicht möglich ist? Höchstens denke ich noch an die zig tausend Bienen, die sich in den Stöcken in meinem Garten befinden. Was zählt da die eine.

Das kleine Mädchen hatte einen ganz anderen Blick. Es kommt auf die eine an, der man helfen muss. Das lässt sich auch so ausdrücken: Es kommt immer auf den einzelnen an. Er gehört in den Mittelpunkt. An ihm und nirgendwo sonst entscheidet sich, ob wir hilfsbereite und gütige Menschen sind oder nicht, ob wir moralisch handeln oder es unter begleitendem Wortgeklingel bleiben lassen. Der schulterzuckende Verweis auf die große Masse (Flüchtlinge, hungernde Kinder, Opfer von Gewalt etc.), für die man als Einzelner leider nichts tun kann, ist nichts anderes als eine schäbige Verweigerung der Hilfe im „vorliegenden“ Fall.

»Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Reich Gottes nicht erlangen«. Jesus jedenfalls hätte an dem kleinen Mädchen, das die einzelne Biene sah und rettete, seine helle Freude.