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18.10.20 Kein Vorbild

Organisationen als strukturierte Machtverhältnis, egal ob staatlich oder ökonomisch, schlagen sich seit Menschengedenken mit einem Legitimationsproblem herum. Zentral geht es dabei um die Legitimation gegenüber den Untertanen. Der ideale Insektenstaat als von der weisen Natur bzw. einem allmächtigen Schöpfer geliefertes und somit zeitlos gültiges Paradigma kam dem entgegen. Umso mehr, als es den unterschiedlichsten Interpretationen offenstand und Anpassungen an jede beliebige politische Ordnung zuließ.

Vor allem Bienen faszinieren den Betrachter mit ihrem hierarchischen und gleichzeitig harmonisch wirkenden System. Jedes sechsbeinige Lebewesen im Bien kommt wie selbstverständlich seinen Aufgaben nach. Niemand muß Anordnungen geben oder im Notfall von Blut, Schweiß und Tränen schwadronnieren.

Ein- wie Unterordnung funktioniert wie von selbst, um das Adjektiv „wie geschmiert“ zu vermeiden. Am Ende steht auch noch wunderbarer Honig und kostbares Wachs für die menschlichen Bewunderer. So viel sei allerdings hier schon gesagt: Sie alle zappeln an der Leimrute ihrer eigenen Projektionen. Von deren grandiosen Irrtümern wird später noch zu reden sein.

Es begann mit Texten der griechischen und römischen Antike. Aristoteles, Sokrates, Plato, Xenophon, Vergil, Seneca und Plinius der Ältere. sind nur einige der Autoren, die in den Bienen eine idealtypische Korrelation zur gesellschaftlichen Organisation von Menschen sahen.

Der Vergleich menschlicher Strukturen zum Bienenvolk läßt sich weiter von der Spätantike über das ganze Mittelalter bis zur Renaissance verfolgen. Das setzte sich noch bis ins 17., 18. und 19. Jahrhundert fort. Dabei lässt sich eine durchgehende literarische Tradition verfolgen, die den Topos im Zusammenhang der konkreten politischen und sozialen Verhältnisse aufgreift.

Im Mittelalter etwa gestatteten städtische Magistrate, Gilden oder Zünfte nur dem die Ehe bzw. Gründung einer Familie, der aufgrund von Vermögen oder Einkommen in der Lage war, sie auch zu unterhalten. So galt im 18. und 19. Jahrhundert etwa Fabrikarbeit nicht als ausreichende Grundlage für eine Ehe. Ehebeschränkungen führten deshalb zu einem Anstieg des Heiratsalters und einer größeren Zahl ledig bleibender Männer und Frauen. Was wiederum den bleibenden Legitimationsdruck erhöhte.

Der blieb bis in die jüngste Zeit. “Zwischen 1900 und 1960 dürfte kaum ein Schweizer Kind die Primarschuljahre durchlaufen haben, ohne einem Lesebuchstück zu begegnen, das ihm den exemplarischen Fleiss im Bienen- oder Ameisenstaat nahelegte”, so die Neue Zürcher Zeitung noch vor gar nicht langer Zeit.

Früher ging man wie selbstverständlich davon aus, dass an der Spitze eines so einzigartigen Systems wie das der Bienen nur ein Mann stehen könne. Die Wende oder Ernüchterung kam durch den Niederländer Jan Swammerdam (1637-1680), einem Zeitgenossen von Rembrandt und Vermeer.

Der Arzt und Insektenforscher erkannte unter dem Mikroskop, dass beim Bien ganz oben kein Mann, sondern eine Frau steht. Deutlich sichtbare Ovarien erlaubten keinen anderen Schluß. Die Königin, so erkannte der fromme Swammerdam, der seine Entdeckung erst einmal für sich behielt, sei das einzige fortpflanzungsfähige Wesen des Bienenvolkes.

Zum imkerlichen Elementarwissen gehörte bis in diese Tage: Neben ihrer Hauptaufgabe, dem Eierlegen, sondert die Königin die sog. Königinnensubstanz ab. Die enthält ein Pheromon, das die anderen weiblichen Lebewesen im Stock, also die Arbeitsbienen, in ihrer Geschlechtlichkeit hemmt und darüber hinaus Harmonie & Wohlbefinden des ganzen Insektenstaates stiftet.

Die bisherige Faktenlage: Alle weiblichen Bienen im Staat werden die ersten Tage ihres Lebens mit Gelee Royal gefüttert. Nur die jungen Königinnen erhalten das kostbare Futter weiter. Das aber hat es in sich. Schon nach einer Entwicklungszeit von 16 Tagen schlüpft die junge Weisel. Noch ein paar Tage weiter und sie ist begattungsfähig, wie es im Imkerdeutsch heißt.

Die Masse der Arbeiterinnen dagegen wird mit einem Gemisch von Honig und Pollen ernährt. Mit gravierenden Folgen. Sie schlüpfen erst nach 21 Tagen. Ihre Geschlechtsorgane bleiben unterentwickelt. Sex ist für sie keine Option.

Doch die Wahrheit ist eine andere: Es ist nicht ein Pheromon, das Arbeitsbienen zu dem macht, was sie sind. Es ist eine gezielte Unterernährung, die sie ohne Sex leben läßt und ihr die Möglichkeiten zur Fortpflanzung verschließt. Aber es kommt noch krasser.

So berichtet das „Deutsche Bienenjournal“ in seiner Ausgabe 8/2020 von bemerkenswerten Versuchen der North Dakota State University. Wissenschaftler gaben dort Bienenlarven Futter in unterschiedlicher Menge. Larven, die unbegrenzt Futter erhielten, entwickelten sich – zumindest äußerlich – zu Königinnen. Auch, wenn das Futter nur von minderer Qualität war.

Der Clou: Auch noch am sechsten Tage beeinflusste die Futtermenge die künftige Entwicklung der jungen Biene.
Die Wiederholung sei erlaubt: Bisher war man wie gesagt davon ausgegangen, dass spätestens am dritten Tag feststeht, aus welcher Larve sich eine Königin entwickelt und aus welcher die Masse der Arbeiterinnen entsteht. Man nahm an, dass sich im Gelee Royal ein besonderer Inhaltsstoff befinden müsse, die eine Larve zur Königin werden lässt.

Doch bis bisher konnte man ein solches Ingridienz nicht identifizieren. Allerdings versorgen Ammenbienen die junge Weisel nicht nur durchgängig mit Gelee Royal, sondern auch mit einer größeren Futtermenge. Von anderen Bienenarten weiß man schon seit längerem, dass die Ernährung das Geschlecht des Nachwuchses bestimmt.

Fazit: Das ganze System des Bien beruht auf einer unterschiedlichen Ernährungsstrategie. Jungköniginnen erhalten nicht nur das beste Futter, sondern das auch noch in verschwenderischer Fülle. Die Nahrung der Arbeiterinnen dagegen wird strategisch limitiert d.h. Arbeiterin im Bienenstaat wird man durch Einschränkung der Nahrung. Die verhindert die Entwicklung der Geschlechtsorgane, sodass Vermehrung und Sex keine Option mehr für sie ist. Nichts als Arbeit ist von Anfang an ihr ganzes, noch dazu nur in Tagen zu zählendes Leben.

Auch die Managementliteratur konnte nicht widerstehen, den oben skizierten Topos von der hierarchischen Stimmigkeit und Harmonie bei den Bienen aufzugreifen. Ein nahezu komisches Beispiel bietet der „Bienenhirte“. Sein Autor Rini van Solingen.

In vielen Organisationen, so liest man, werden Mitarbeiter so geführt, als ob sie eine Herde von Schafen wären. Vieles wird von oben bis ins Detail entschieden – was eigentlich abwegig ist, denn die sog. Mitarbeiter sind von Hause aus arbeitsfreudig und anpassungsfähig. Doch der übliche Führungsstil solcher Teams gleicht mehr der Tätigkeit eines Schäfers mit seinen Hunden als der Arbeit eines Imkers.

Dessen Aufgabe bestehe darin, so erfahren wir zu unserer Verblüffung, ein produktives Arbeitsumfeld für die Insekten zuschaffen, die die von Hause aus fleißigen Tierchen an der Honigproduktion hindern.

Genauso muß die menschliche Führungskraft wirken. Im Management-Deutsch: Bienen als Idealbild von selbstgeführten Teams, die den Profit alias Honig ständig steigern. Und das ohne alle Reibungsverluste wie Widerborstigkeit und Zickenkriege. Mal wieder offenbart sich da der Wunsch als Vater des Gedankens. In dem Fall noch besonders peinlich: Bar jeder Ahnung von der Evolution der Bienen.

Viel kann man bei den nektarsammelnden Insekten lernen. Nur eins nicht: Wie sich menschliches Zusammenleben im allgemeinen oder gar innerbetriebliche Führung im besonderen gestalten läßt.